Der Crashdesigner





Ein Unfall, der keiner ist.
Der plötzliche Herztod eines Beamten.
Ein ministerielles Reformprojekt, bei dem das Beraterteam auf ein Netzwerk von Korruption und Intrigen stößt. Während Inspektor Kramer noch nicht einmal ahnt, in welchem Zusammenhang die Ereignisse stehen, ist längst ein Wettlauf auf Leben und Tod entbrannt. Denn der Profi-Killer tötet schon lange nicht mehr für Geld. Sein Rachedurst macht ihn so unberechenbar und gefährlich, dass selbst seine Auftraggeber um ihr Leben zittern müssen.



Faaker See, Kärnten, im August 2017

 

Ein Druck auf das Smartphone um die Uhrzeit abzulesen. Schon nach zweiundzwanzig Uhr. Wann würde er endlich kommen? Was das wohl für ein Typ war, auf den er da lauerte? Wessen Feindschaft hatte er sich wohl zugezogen? Seine Augen starrten eine Weile in die undurchdringliche Finsternis. Ab und zu war das Kreischen eines Kauzes zu hören, der seine nächtliche Jagd begonnen hatte. Ob das leichte Rascheln im Unterholz von dessen Beute kam, war nicht zu erkennen. Er wusste, dass auf beiden Straßenseiten dichter Hochwald war. Schließlich hatte er die Stelle ja deshalb ausgewählt. Sein Blick wanderte hoch. Die Wipfel der alten Nadelbäume waren kaum wahrzunehmen. Dunkelste Neumondnacht, nur schemenhaft konnte er die Wipfel, die sich im spürbaren Windhauch wiegten, erkennen. Den ganzen Tag über war es bedeckt gewesen, zwischendurch hatte es immer wieder etwas geregnet. Er suchte am Boden nach Anzeichen, ob die Fahrbahn aufgetrocknet hatte. Aber alles was er sah, war schwarz in schwarz.

Mit einem Ruck löste sich die mit einer dunklen Hose und einem schwarzen Kapuzenpulli bekleidete Figur vom dunkelgrünen Pickup, an dem sie seit zwanzig Minuten gelehnt hatte und ging ein paar Schritte hinter das Auto, auf die andere Straßenseite. Von dort konnte sie die lange Gerade vor der kurzen, scharfen Rechtskurve mehr erahnen als erblicken. Alles war finster, keine Scheinwerfer kündigten das Herannahen eines Fahrzeuges an. Sie beugte sich vorne über zum Boden, ließ die Arme baumeln, die Fingerspitzen erreichten knapp den Asphalt, dann richtete sie sich auf und kreiste ein paar Mal mit den Armen um die Steifheit zu vertreiben.

Der Mann mit dem Kapuzenpulli hatte sorgfältig beobachtet und festgestellt, dass der erwartete Fahrer immer erst gegen 9 Uhr 30 abends zum Auto ging und dann diese Straße entlang fuhr. Es hatte ihn viel Zeit gekostet, ihn zu observieren. Aber er war sich ziemlich sicher, dass er auch heute Nacht hier entlang fahren würde. Wieder starrten seine Augen gegen die Fahrtrichtung. Kurz vor neun hatte er seine Position bezogen und gewartet. Kein einziges Fahrzeug war in dieser Zeit vorbeigekommen. Wie auch? Am Ende der kurzen Walddurchfahrt standen nur wenige Häuser auf einem kleinen Hügel über dem Faaker See, auf den die Abendsonne lange schien, wenn sie schien. Und alle machten den Eindruck Ferienhäuser zu sein, denn werktags war abends nur in einem Licht zu sehen gewesen. Der Typ, auf den er hier wartete, wohnte wohl permanent dort. War es dann noch ein Ferienhaus? Scheiß drauf! Was ging es ihn an? Er hatte nur seinen Job zu erledigen. Wieder sah er auf die Uhr. ›Aber was, wenn er heute nicht nach Hause fährt?‹

Franjo ging zum Auto vor, streifte sich eine Warnweste über, lehnte sich am Heck gegen die Bordwand und starrte in die Richtung, aus der er seinen Klienten erwartete.


Laut dröhnte Queen aus den vielen Lautsprecherboxen, die in seiner BMW-Limousine vorne, in den Türen und hinten in der Hutablage verbaut waren. Den Sound hatte der erfolgreiche Kärntner Unternehmer sorgfältig auf seine Sitzposition ausbalanciert. Er liebte Queen. Freddy Mercury. Alt, aber gut. Geniale Musik. Als Student hatte er ein Queen-Konzert in der Wiener Stadthalle erlebt. Mann, das war lange her. Aber seither liebte er die Musik noch mehr. Live war schon was anderes. Schaffte Zugehörigkeit. Schade, dass Freddy Mercury den Löffel schon hatte abgeben müssen. Aber die Musik lebte. Würde immer leben. Heute hatte er Queen aus der Playlist gewählt, weil er einen Erfolg errungen hatte. Endlich hatte sein Geschäftspartner von Los Angeles zurückgerufen und mit freudiger Stimme verkündet, dass das Angebot an die Amerikaner gut aufgenommen worden war. Sein Eintritt in den amerikanischen Markt. Endlich Aussicht auf eine lukrative Markterweiterung. „Bicycle Race“ verklang gerade. Genauso fühlte er sich. Als hätte er mit letzter Kraft in die Pedale getreten. Wie passend. Die linke Hand am Lenkrad, zog er mit der rechten den Krawattenknoten locker. Mercurys Stimme hob zu ›Killer Queen‹ an. Der Daumen am Multifunktionslenkrad erhöhte die Lautstärke noch um eine Spur. Dumpf dröhnten die Pässe, übertönten das Schnurren des Sechszylindermotors bei weitem. Er klopfte den Takt mit und stimmte in den Refrain ein. Seine Gedanken waren euphorisch. Amerika! Wenn der Auftrag durchging. From Villach to L.A.. Eine Riesenchance, die sich auftat. Ein Grinsen stieg in sein Gesicht, als er kurz daran dachte, wie er den Mitbewerber aus Wien ausgetrickst hatte. Vielleicht nicht ganz sauber und stilvoll, aber effektiv. Von wegen Mitbewerb! Business war Krieg! Was anderes zu behaupten war Schwachsinn. Ein Auftrag dieser Größe konnte über Leben oder Tod, Gewinn oder Pleite entscheiden. Da durfte man eben nicht zimperlich sein. Wir oder die anderen und aus! Und er hatte gewonnen. Der kleine Umschlag mit den sechzehn großen Banknoten für den frustrierten Typen bei den Wienern hatte sich gelohnt. Und die Aussicht auf einen gut dotierten Job beim Sieger, den er vage in den Raum gestellt hatte. Aber den konnte sich der Typ – wie hieß er doch gleich? – abschminken. ›Ich werde mir doch nicht einen ins Boot setzten, der beim ersten Frust die Angebotskalkulationen verkauft. Blöd müsste ich sein! So ein frustrierter, korrupter Arsch!‹

Heute würde er sich einen schönen Wein genehmigen. Einen teuren. Einen spanischen. Einen Rioja. Den hatte er sich verdient. Dazu noch etwas von diesem exquisiten Serranoschinken. Er blickte auf die Uhr. Bald zehn. Egal! Heute war ein erfolgreicher Tag. Dafür wollte er sich zu Hause eine kleine Freude gönnen. Zu Hause. Eigenartig, dass er das Ferienhaus, in das er vor…, ja wie lange schon? …vor dem Winter, nach der Scheidung von Margit, gezogen war, jetzt als sein Zuhause bezeichnete. Die große Villa, die näher am Werk lag, hatte er Margit überlassen – ›müssen‹, setzte er in Gedanken hinzu. Und die hatte diese rasch versilbert. Zurückkaufen hätte er sie können, von diesem Trampel. ›Aber nicht mit mir!‹ Die Scheidung hatte ihn viel Energie und Zeit gekostet. Aber das war nun aus, vorbei und abgehakt. Mittlerweile genoss er es, nach der Arbeit raus zu fahren, dort Ruhe zu finden.

›We Are The Champions‹ verkündete Mercury und er stimmte mit tiefer, fast grölender Stimme zu: ›Weeee Aaaare The Champiiiooons‹! Auf der langen Gerade trat er das Gaspedal noch etwas tiefer, der BMW schien noch einen Satz vorwärts zu machen. Er beugte sich vor, um am Media-Player die Bässe an den hinteren Lautsprechern noch etwas zu verstärken. ›We Are The Champions!‹ Wo war das doch gleich? Er blickte auf das Display, suchte. Da, endlich! Er riss seinen Blick hoch, die Rechtskurve schoss auf ihn zu. Er wollte gerade vom Gas gehen, als er eine Bewegung wahrnahm. Ein grelles Blinken! Eine gelbe Warnweste zuckte hell im Scheinwerferlicht. Eine Gestalt sprang von rechts in die Fahrbahnmitte! Fuchtelte! Er trat voll in die Bremsen. Der Wagen sank vorne tief ein, das Heck brach aus, zerrte ihn von der Fahrbahn. Er sah einen Baum auf sich zu fliegen. ›We Are The……‹

Der Krach verklang ebenso schnell, wie er gekommen war. Kurz, dumpf, endgültig. Der BMW war gegen einen dicken Nadelbaum gekracht. Die hinteren Lichter strahlten grelles Rot in die Nacht. Der rechte, vordere Scheinwerfer ließ einen Strauch grotesk erstrahlen. Etwas Dampf stieg auf. Mercury war verstummt.

Der Mann mit der Pannenwarnweste, der gerade noch auf der Fahrbahn gefuchtelt hatte, hob einen kleinen Kanister von der Ladefläche des Pickups und rannte nach vorne. Er musste die Böschung hinunter und hinten um den BMW herumgehen, um zur Fahrerseite zu kommen. Die Windschutzscheibe hatte mehrere Sprünge, als hätte ein aufgewirbelter Stein eingeschlagen. Er riss am Türgriff, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Ein kräftiger Stoß mit der Unterkante des Metallkanisters und die Seitenscheibe bröselte in kleinen Glassteinchen zu Boden. Er stellte den Kanister zu Boden und griff unter dem Airbag-Ballon in den Wagen. Mit beiden Händen fasste er den Kopf des Mannes, riss ihn kurz, aber kräftig nach rechts. Sicher ist sicher! Er hörte das Knacken nicht, glaubte aber, es zu spüren. Der Kopf hing unnatürlich zu Seite, gestützt vom weißen Ballon. Die linke Hand tastete nach dem abgestellten Kanister. Ohne hinzusehen, schraubte er ihn auf, steckte den Deckel sorgfältig in die Hosentasche und leerte Benzin über den Mann. Einen Rest schüttete er auf die aufgebäumte Motorhaube und in den Motorraum. Hastig kramte er nach dem Feuerzeug und dem vorbereiteten Papierknäuel, zündete es an, warf es ins Innere des Autos und rannte los. Ein Feuerblitz erhellte den Nachthimmel, ein tiefes, kehliges Wummern folgte.

Er musste das Feuerzeug einstecken, um sich mit einer Hand an einem Strauch festhalten und über die Böschung ziehen zu können. Nach ein paar Schritten erreichte er den Pickup und warf den Kanister auf die Ladefläche. Eine Hand zerrte ein Smartphone aus der Hosentasche, mit den Zähnen zog er einen dünnen Lederhandschuh von den Fingern, hielt ihn zwischen den Zähnen fest. Die Foto-App zischte dreimal. Das sollte reichen. Schnell streifte er den Handschuh wieder über, riss sich die gelbe Warnjacke vom Körper und warf sie durch die offene Autotür in den Wagen. Er sprang ins Auto und raste los.


Nach einer halbstündigen Fahrt hinter die slowenische Grenze hatte er den gestohlenen Pickup am Bahnhof gegen einen unauffälligen Kleinwagen mit einheimischen Kennzeichen getauscht. Der parkte jetzt vor einem heruntergekommenen Gasthaus nahe der M4 zwischen Doboj und Tuzla. Franjo saß im Hinterzimmer, in das der deftige Geruch von verkochten Zwiebeln von der nebenliegenden Küche herüber drang, an einem wackeligen Tisch mit einem verschlissenem, aber frisch gebügeltem Tischtuch, von dessen Blütezeit die sorgsam gestickten Blumenmuster zeugten, und versuchte sich mit seinem Prepaid-Handy ins Netz einzuloggen. Wie erwartet, war die Verbindung hier nicht die schnellste. Aber er schätzte die Abgeschiedenheit und die völlig desinteressierte, vergrämte Wirtin, die anderswo längst ihre Pension genießen würde, sich aber hier ein bisschen Geld dazu verdienen musste. Als Franjo gefragt hatte, wo er in Ruhe was essen könnte, hatte sie wortlos mit der linke Hand auf den Gang gedeutet, wo er dann ein kleines Hinterzimmer mit nur drei Tischen gefunden hatte. Obwohl alles völlig veraltet war, war es überraschend sauber. Als die Seite mit dem Login endlich verschwand, schob er die drei Fotos in die virtuelle Ablage und wartete gedankenverloren bis der Upload fertig war. Dann tippte er eine Handynummer ein und schrieb eine schlichtes „DONE“ in den Text und drückte senden. Der Empfänger würde wissen, was das bedeutete und was als nächstes zu tun war. Danach fischte er die SIM-Karte aus dem Handy und legte sie auf den Tisch. Er zog die Brieftasche hervor, suchte eine andere SIM-Karte, steckte diese ins Handy und schaltete es wieder ein. Die andere SIM steckte er in ein Seitenfach der Brieftasche. Vom Gang her hörte er schlurfende Schritte, dann stand die Wirtin mit einem Teller und einem Topf in der Tür. Er deutete ihr, zum Tisch zu kommen, wo sie den Teller abstellte und mit ein paar Schöpfer des kräftig duftenden Eintopfs füllte. Aus einer Lade fischte sie Besteck und einen Ständer Papierservietten, den sie ihm wortlos über den Tisch zu schob. Dann schlurfte sie aus dem Raum.

Drei Stunden später stand der Kleinwagen versteckt in einer Scheune und Franjo war in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf gefallen.

Er hörte seine Mutter schreien. Soldaten zerrten an ihr. Einer schlug ihr ins Gesicht. Eine rote Linie lief aus ihrer Nase. Ihre verzweifelten Schreie drangen tief in ihn ein.

Gegen fünf Uhr schreckte er hoch. Sein T-Shirt klebte auf den Schultern. Sein Herz pochte wild. Wieder hatte er den Alptraum gehabt. Wie immer, wenn er einen Auftrag erledigt hatte.


Franjo sank in sein Kissen zurück und schloss die Augen, versuchte langsam und tief durchzuatmen. Die Erinnerungen tauchten in der Dunkelheit auf. Er sah, wie sie seine Mutter durch die eingetretene Tür schleiften und hörte wieder ihren letzten schrillen Schrei. Danach hatten sie ihre Mutter nie wieder gesehen. Es gab keine Spur und keine Hinweise. Später, als er erwachsen war, hatte er von den Massengräbern erfahren, die bis zu deren Auffinden von vielen bloß für böse Propaganda gehalten worden waren.